„Diese EM wird meine!"
Langsam wird es still um ihn herum. Das Klatschen der Zuschauer, die routinierten Schläge, die auf den Trainingsboxsack einprasseln, werden immer leiser. Jetzt gibt es nur noch ihn. Ahmed. Nur noch wenige Minuten, dann heißt es für ihn „Alles oder nichts". Wie vor jedem Kampf, lässt er sich auf einen Stuhl sinken, bedeckt seinen Kopf mit einem Handtuch, um das Geschehen um ihn herum vollkommen auszublenden. Er schließt die Augen, atmet tief durch und formt mit seinen Lippen die altbekannten Gebetsverse. Sachte klopft sein Trainer Yaroslav auf seine Schulter und gibt ihm das Zeichen, dass es nun losgeht. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sieg oder Niederlage." Mit gerade einmal 16 Jahren hat Ahmed verstanden: Wer innerlich ruhig bleibt, kann selbst in der lautesten Arena bestehen. Und so macht er sich auf den Weg, auf den Weg zu seiner nächsten Aufgabe.
Und die ist groß: Im September will er an seiner zweiten Europameisterschaft (in Ostrava) teilnehmen, und diese „zu meiner machen." Sein Weg in den Ring ist jedoch kein Zufall: Der heute 16-Jährige ist mit dem Kampfsport aufgewachsen. Sein Vater – früher selbst Profiboxer – nimmt ihn schon früh mit in die Sporthalle. Und während andere Kinder auf dem Spielplatz toben, stapft Ahmed in zu großen Handschuhen durch die Halle, schaut den Großen zu, macht erste Schlagübungen, lernt Haltung, Haltung und nochmal Haltung. „Ich habe nie wirklich damit angefangen. Boxen war einfach immer da", sagt er.
Mit zehn Jahren tritt er zu seinen ersten Kämpfen an. Keine Spur von Lampenfieber – weil das alles für ihn selbstverständlich ist. Ein Jahr nach dem anderen folgt, jedes Mal ein bisschen weiter, ein bisschen ernster. Mit 13 dann der erste große Schritt: der erste Deutsche Meistertitel. Und mit ihm die Erkenntnis: „Wenn ich wirklich weiterkommen will, dann muss ich es ernst meinen. Ab jetzt zählt es." Zwischendurch versuchte er sich auch im Basketball, bekommt sogar Anfragen von großen Vereinen. Doch seine Entscheidung fällt auf das Boxen. Denn da war diese eine Halle, da war sein Vater, da war der Ring. Und das vertraute Gefühl, wenn der Gong ertönt.
Mit 14 Jahren wiederholt er seinen Titel bei der Deutschen Meisterschaft – und gewinnt anschließend mehrere hochkarätige Kämpfe. Das ist der Moment, in dem Ahmed klar sieht: „Ich wusste: Das ist es. Ich will das hier. Ganz."
Seit zwei Jahren trainiert er nicht mehr in Hamburg, wo alles begann, sondern am Sportgymnasium Schwerin – und steigt für Traktor in den Ring. Er trainiert. Täglich. Hart. Mittwochs und freitags sogar doppelt. „Morgens vor der Schule geht's los. Danach nochmal nachmittags. Manchmal ist man einfach durch – aber man weiß, wofür man's macht." In der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung wird das Pensum nochmal angezogen: mehr Sparrings, mehr Koordination, mehr Ausdauer. Besonders wichtig sind dann die Einheiten mit erfahrenen Partnern – oft älter, schwerer, stärker. „Die fordern mich. Und genau das brauche ich. Ich will jedes Mal ein Stück über meine Grenze gehen", so der 16-Jährige.
Ahmed startet im Superschwergewicht – 90 Kilo plus. Sein Wettkampfgewicht liegt bei rund 102 Kilogramm, verteilt auf 1,99 Meter Körpergröße. Schnell, explosiv und dennoch stabil. Was ihn im Training besonders auszeichnet, ist nicht nur die Athletik, sondern vor allem seine Konstanz. Und sein Kopf. „Ich glaube, dass ich durch meine Erfahrung und das frühe Reinkommen ins Boxen einfach eine gewisse Ruhe mitbringe." Wo andere sich in der Vorbereitung nervös machen, bleibt er fokussiert. Dazu kommt eine enge Bindung zu seinem Coach Yaroslav – nicht nur sportlich, sondern auch menschlich. „Er kennt mich. Er weiß, wann er pushen muss – und wann ich einfach kurz durchatmen muss." Diese Verbindung sei für ihn „unfassbar wichtig", sagt Ahmed. Denn auch wenn er körperlich an seine Limits geht – im Kopf bleibt er klar.
Jetzt steht die nächste große Etappe an: die Qualifikation zur Europameisterschaft – und sie hat für Ahmed eine immense Bedeutung: „Ich gehe da nur mit Gold nach Hause. Alles andere zählt nicht." Der Rahmen dafür ist der Brandenburg Cup, ein international hochkarätig besetztes Turnier, das gleichzeitig als Qualifikationswettkampf dient. Nationen wie Kanada, Schweden, Australien, Italien, die USA – sie alle werden vertreten sein.
Disziplin ist das, was ihn so weit gebracht hat. Disziplin – und ein klarer Blick für das, was wirklich zählt. „Boxen hat mich diszipliniert – körperlich, aber auch mental. Ich hab gelernt, ruhig zu bleiben, selbst wenn's laut wird." Und noch etwas hat ihm der Sport gelehrt: Dass man niemanden vorschnell beurteilen darf. „Du darfst niemanden unterschätzen. Nie. Nur weil jemand vielleicht still ist, schmal wirkt, oder einfach nicht auffällt – heißt das gar nichts. Im Ring zeigt sich, was in einem steckt."
Für Ahmed ist klar: Der Fokus liegt zu hundert Prozent auf der Quali. Die EM kommt erst danach – Ende September. Es wird seine zweite EM – aber diesmal soll sie seine werden. Nicht nur, weil er sportlich gereift ist. Sondern weil er weiß, was er will. Und weil ihn sogar die Kleidung des Nationalteams motiviert. „Die Sachen vom deutschen Team sehen einfach krass aus – und ich will die tragen. Ich will da rein."
Gerade ist er auf dem Weg ins Trainingslager nach Frankfurt (Oder), um weiterhin jeden Tag einen Schritt zu machen. Ein Schritt näher an Ostrava. Ein Schritt näher an Gold.
Eine Seite zurück